Hilfen zur Erziehung

Schnelle Hilfe, wenn Jugendliche sich selbst schädigen

Selbstschädigendes Verhalten während der Pubertät kann ein erstes Anzeichen einer psychischen Erkrankung sein. Wie man dies sicher erkennt und den Gefahren für eine gesunde psychische Entwicklung gegensteuert, untersucht die Ambulanz für Risikoverhalten und Selbstschädigung "AtR!Sk" der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Heidelberg.

04.06.2015

Die im Mai 2013 gegründete Spezialambulanz am Standort Weststadt des Universitätsklinikums ist deutschlandweit einmalig und wurde bislang von rund 300 Teenagern und ihren Eltern aufgesucht. Sie bietet eine umfassende und evidenz-basierte Beratung und Therapie. Forschungsziel von AtR!Sk ist zum einen, die Wirksamkeit des innovativen ambulanten Versorgungskonzepts mit offener Sprechstunde – für den ersten Besuch braucht man keinen Termin -, kurzen Wartezeiten und neuen, speziell entwickelten Therapien zu überprüfen. Zum anderen will das Team um Privatdozent Dr. Michael Kaess Faktoren identifizieren, die ein erhöhtes Risiko für eine psychische Erkrankung anzeigen sowie Hinweise auf die jeweils am besten geeignete Therapieform geben können. Die Dietmar Hopp Stiftung unterstützt Forschungsarbeiten im Rahmen von AtR!Sk zu Früherkennung und Therapie psychischer Störungen bei Jugendlichen mit rund 210.000 Euro.

Rund ein Drittel der Jugendlichen in der Pubertät neigt zu riskantem und sogar selbst-schädigendem Verhalten: Das reicht vom häufigen Betrinken und Experimentieren mit Drogen über die exzessive Beschäftigung mit Online-Spielen bis hin zu Selbstverletzungen und Selbstmordversuchen. Manchmal gehören bestimmte Risikoverhaltensweisen zum normalen Entwicklungsprozess und wachsen sich gewissermaßen aus. Sie können aber auch auf den Beginn einer psychischen Erkrankung oder einer Störung der Persönlichkeitsentwicklung hinweisen.

"Uns geht es darum, Jugendliche, deren Verhalten ihre gesunde Entwicklung oder Gesundheit stark gefährdet, rechtzeitig positiv zu beeinflussen sowie psychische Erkrankungen, die häufig in der Pubertät ihren Anfang nehmen, in einem sehr frühen Stadium zu erkennen", erklärt Dr. Michael Kaess, Initiator und Leiter der Ambulanz. "Je früher die Therapie beginnt, desto besser sind psychische Erkrankungen zu behandeln. Zudem kann dies vielen Patienten einen langen Leidensweg und langwierige, stationäre Therapien ersparen. Wir danken der Dietmar Hopp Stiftung sehr herzlich für ihre großzügige Förderung, denn der Bedarf ist da." Bei etwa 60 bis 70 Prozent der Jugendlichen, die sich bei AtR!Sk vorstellen und sich selbst verletzen, diagnostiziert das Team der Ambulanz eine beginnende psychische Erkrankung wie eine Depression oder eine Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Keine Wartezeiten auf Therapie

Das Angebot richtet sich an Jugendliche in oder ohne Begleitung volljähriger Bezugspersonen, aber auch an Eltern. "Jeder, der sich über sein eigenes Verhalten oder das seines Kindes Sorgen macht, kann unverbindlich vorbeikommen. Dies senkt die Hemmschwelle, sich bei uns Rat und Hilfe zu suchen", sagt Dr. Kaess. In einem ersten Gespräch schätzen erfahrene Ärzte und Psychologen das Verhalten und die psychische Verfassung der Jugendlichen ein. Bei Bedarf wird ein Folgetermin zur ausführlichen Diagnostik und Abklärung vereinbart.

Ist eine Therapie angezeigt, stehen verschiedene Konzepte, darunter eine neuartige psychotherapeutische Kurzzeittherapie, zur Auswahl. "Gerade bei Jugendlichen ist die ambulante Therapie mit einer engmaschigen Betreuung sinnvoll und auch effektiver als die stationäre Therapie, da sie nicht aus Familie, Schule und Freundeskreis herausgerissen werden. Zudem ist die ambulante Therapie weniger stigmatisiert", erklärt der Jugendpsychiater. Die Therapie wird im Rahmen einer Sondervereinbarung von den Krankenkassen übernommen und beginnt zeitnah. Lange Wartezeiten gibt es nicht. Je nach Befund überweist das Team auch an niedergelassene Kollegen oder leitet – bei akuter Behandlungsnotwendigkeit – eine sofortige stationäre Behandlung in die Wege.

Besteht dagegen kein Anlass für eine Therapie, werden Eltern und Jugendliche nach eingehendem Gespräch an entsprechende Beratungsstellen weiter verwiesen. "Wir lassen niemanden allein", sagt dazu Oberarzt Kaess. Oft können die Experten aber auch Entwarnung geben, zum Beispiel wenn Selbstmordgedanken oder selbstschädigendes Verhalten mit pubertätstypischen Krisen wie dem ersten großen Liebeskummer zusammenhängen.

Risikoprofil soll Auswahl der individuell besten Therapie erleichtern

In der nun von der Dietmar Hopp Stiftung geförderten Studie soll die AtR!Sk-Ambulanz nach wissenschaftlichen Kriterien auf Herz und Nieren geprüft werden: Bewährt sich das neue Konzept und bringt die Frühdiagnose Vorteile für die Betroffenen? Zeigen die eingesetzten Behandlungsverfahren im ambulanten Umfeld die erwartete Wirkung bzw. wie ist der Behandlungserfolg? Wie akkurat gelingt die Zuteilung zu den verschiedenen Therapien? Reicht die Dauer aus? Wie entwickelt sich die Therapeut-Patienten-Beziehung und fühlen sich die Patienten gut aufgehoben? Wie wirksam ist eine Kurzzeitpsychotherapie im Vergleich mit herkömmlichen therapeutischen Angeboten? Dazu wird es in den kommenden drei Jahren Nachuntersuchungen mit Hilfe standardisierter Fragebögen und Interviews jeweils ein Jahr, zwei und drei Jahre nach Ende der Therapie geben. Insgesamt sollen die Daten von 275 Patienten ausgewertet werden.

Darüber hinaus wollen die Wissenschaftler Merkmale für ein individuelles Risikoprofil der betroffenen Jugendlichen zusammentragen, die in Zukunft Diagnose und Therapiewahl erleichtern sollen. Psychologen gehen davon aus, dass sich Betroffene in bestimmten Merkmalen bzw. Erlebnissen von Altersgenossen unterscheiden, bei denen dieses Verhalten auf die Pubertät beschränkt bleibt. Dies können zum Beispiel belastende Kindheitserlebnisse oder ein schwieriges soziales Umfeld, aber auch biologische Merkmale, zum Beispiel die Funktion des neurobiologischen Stressantwortsystems, eines jungen Menschen sein. Ziel ist es, auf der Basis eines genauen Risikoprofils das therapeutische Angebot individuell an die Bedürfnisse des jeweiligen Patienten anzupassen.

Quelle: Universitätsklinikum Heidelberg vom 28.05.2015

Redaktion: Kerstin Boller

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