Flucht und Migration

Mehr Chancen für geflüchtete Kinder und Jugendliche: Was ist auf kommunaler Ebene zu tun?

Vertreter von kommunalen Spitzenverbänden und Kommunen, Akteure der Kulturellen Bildung sowie weitere Experten haben bei einem Fachforum am 5. Dezember 2016 über kommunale Konzepte und Netzwerke zur Unterstützung der kulturellen Bildungsarbeit mit Geflüchteten diskutiert. BKJ-Referentin Kerstin Hübner fasst die Ergebnisse zusammen.

10.01.2017

Auf Einladung der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (BKJ) und der kommunalen Spitzenverbände nahmen rund 80 Teilnehmende in den Blick, wie sich Verantwortungsgemeinschaften zwischen Kommunen und Trägern Kultureller Bildung bilden und verstetigen lassen, die sich auf lokaler Ebene für Gesamtkonzepte und Netzwerke einsetzen und damit kulturelle Bildungsarbeit mit Geflüchteten ermöglichen. Die Grundlage für den Diskurs bildeten vorliegenden Positionen und Strategien, Programme und Modelle sowie Bedarfsanalysen und Erfahrungen.

Die folgenden elf Punkte fassen die wichtigsten Aussagen der einleitenden und abschließenden Grußworte von Rita Maria Rzyski und Harald Härke (Hannover), Jörg Freese (Deutscher Landkreistag) und Insa Lienemann (BKJ-Vorstand/LKJ Niedersachsen), des Impulsvortrags von Eleonore Hefner (Kultur-Rhein-Neckar e. V.) und verschiedener Inputs aus kommunaler Sicht (Dr. Dieter Rossmeisl aus Erlangen und Dr. Richard Schröder vom Landkreis Recklinghausen) bzw. aus Sicht von Trägern kultureller Bildungsangebote (Agnes Südkamp-Kriete für die Büchereizentrale Niedersachsen und Martin Gerland für den Verband Deutscher Musikschulen) zusammen.

1. Kulturelle Bildungsarbeit mit Geflüchteten braucht (gesellschafts-)politische Haltung und Veränderung.

Wachsende soziale Ungleichheit, Globalisierungs- und Überfremdungsängste haben in den letzten Jahren zu populistischen, diversitäts- und demokratiefeindlichen Bewegungen in unserer Gesellschaft geführt – und machen das Engagement für die Integration und Inklusion geflüchteter Kinder und Jugendlicher zu einer politischen Aufgabe. Verantwortliche und Träger für Kulturelle Bildung müssen ...

  • ihrer Arbeit ein gesellschaftspolitisches Bewusstsein und ein weites Kulturverständnis zugrunde legen,
  •  kulturelle Vielfalt schützen und fördern, indem sie die hier gelebten und "mitgebrachten" kulturellen Ausdrucksformen anerkennen, wertschätzen, aufgreifen und reflektieren,
  • eine inklusionsorientierte Haltung entwickeln und Barrieren abbauen, die Partizipation, Teilhabe und den Zugang aller Menschen zu Kultureinrichtungen und kulturellen Bildungsangeboten erschweren,
  • die Grundprinzipen Kultureller Bildung umsetzen.

Die Teilnehmenden betonten zudem, dass Kultur und Pädagogik/Bildung keine politischen Ersatzprogramme sind. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist eine umfassende Aufgabe, in der kulturelle Bildungsarbeit eine bedeutende Rolle übernehmen kann, dabei aber nicht überstrapaziert werden sollte.

2. Bildungslandschaften sind eine zentrale kommunale Gestaltungsaufgabe für Integration.

Integration ist eine gesamtgesellschaftliche und kommunale Querschnittsaufgabe. Für die Integration Geflüchteter ist die Vor-Ort-Ebene entscheidend. Dabei kann (Kulturelle) Bildung als „Erlebniswelt im Sozialraum“, die über den sozialen Zusammenhalt einer Stadt (mit)bestimmt, einen entscheidenden Beitrag leisten. Damit kulturelle Bildungsangebote erfolgreich zur Integration beitragen können, ist es allerdings notwendig, eine flächendeckende, gut ausgebaute Infrastruktur kultureller Orte und Bildungsangebote vorzuhalten. Dabei dürfen jedoch keine Doppelstrukturen geschaffen, sondern sollten vorhandene Netzwerke und Träger mit ihren Potenzialen genutzt und gestärkt werden – auch um neue Zugänge zu ermöglichen und die Erreichbarkeit der Angebote z. B. durch Mittler/innen zu gewährleisten.

3. Vernetzung ist unbedingt notwendig: ressortübergreifend und zwischen öffentlichen und freien Trägern.

Das Denken in separaten „Zuständigkeiten“ und das „einsame Handeln“ kommunaler Ressorts muss überwunden und durch ein Denken und Handeln in gemeinsamer Verantwortung und auf Grundlage gemeinsamer Ziele abgelöst werden. Gefordert wurden ...

  • ein umfassendes kommunales Bildungsmanagement,
  • die Stärkung von Netzwerken,
  • die Sicherstellung einer gemeinschaftlichen Koordination bzw. die Abstimmung von Aktivitäten in den Kommunen.

Dabei spielen nicht nur die öffentlichen Einrichtungen eine wichtige Rolle, sondern auch die freien Träger, die sich in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen und Anforderungen oft flexibler zeigen und schneller reagieren könnten als die öffentliche Verwaltung.

4. Zivilgesellschaftliche Akteure sind wichtige Fach- und Netzwerkpartner.

Die organisierte Zivilgesellschaft – Vereine und Verbände – übernimmt mit ihrem Engagement nicht nur viel Verantwortung für die kulturelle Bildungspraxis mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen, sondern nimmt oft auch die Rolle des Transmitters und Kommunikators ein:

  • zwischen Geflüchteten und der bereits länger hier ansässigen Bevölkerung,
  • zwischen öffentlichen Einrichtungen und freien Trägern,
  • zwischen unterschiedlichen Akteuren aus dem Bereich Bildung, Soziales, Jugend und Kultur etc.

Die Unabhängigkeit und die Kommunikationskompetenz der Zivilgesellschaft stellen ein besonderes Potenzial dar. Viele Bürger/innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen engagieren sich – kontinuierlich – für Geflüchtete, aber auch Geflüchtete selbst setzen sich für ihre Belange und für die Gesellschaft ein. Dieses Engagement gilt es weiter zu fördern, ohne es zu überfordern oder gar zu einem Ausfallbürgen für die öffentliche Verantwortung zu machen.

5.Nicht über und für Geflüchtete sprechen, sondern mit ihnen.

Alle Aktivitäten müssen geflüchtete Menschen selbst in den Blick und zum Ausgangspunkt nehmen und ihre Individualität und Interessen berücksichtigen. Das gelingt nur, wenn sie selbst in die Entwicklung von Programmen und Projekten eingebunden werden. Es gilt außerdem über Partizipation und Teilhabe hinaus Selbstermächtigung und Empowerment von Geflüchteten zu unterstützen. Hier kommt dem Aufbau bzw. der Stärkung von (Migrant/innen-)Selbstorganisationen eine entscheidende Rolle zu.

6. Geflüchtete sind keine homogene Gruppe

Geflüchtete sind Menschen mit diversen Hintergründen und Bedürfnissen, auf welche die Träger der (kulturellen) Bildungsarbeit flexibel und offen reagieren müssen. Das Konzept der Inklusion mit seiner sehr individuellen und diskriminierungssensiblen Perspektive auf Menschen kann dabei helfen. Die pauschale Bezeichnung „Flüchtlinge“/„Geflüchtete“ sollte zudem sprachsensibel reflektiert werden. Damit hängt auch die Frage zusammen, ob Geflüchtete als Adressat/innen explizit genannt werden sollten oder ob Angebote nicht besser alle Menschen einladen sollten. Es gilt zu überlegen: Wann ist der Begriff stigmatisierend, wann förderlich?

7. Integration, Inklusion und Diversität betreffen alle hier lebenden Menschen.

Alle Strategien, Konzepte und Angebote, die auf Integration und Inklusion abzielen, sollten über Geflüchtete hinausreichen und alle hier lebenden Menschen mitdenken. Notwendig sind inklusive Haltungen der Mitarbeitenden und inklusive Strukturen in den Verwaltungen der Kommunen, die z. B. durch entsprechende Fort- und Weiterbildungsangebote gefördert werden können.

8. Bildung ist deutlich mehr als Schule – auch für geflüchtete Kinder und Jugendliche.

Die Schulpflicht für alle geflüchteten Kinder und Jugendlichen muss gewährleistet sein. Solange diese noch nicht in allen Bundesländern sofort einsetzt, braucht es eine besondere Aufmerksamkeit für diejenigen Kinder und Jugendlichen, deren Schulpflicht aufgrund der rechtlichen Situation noch nicht begonnen hat. Hier fehlt es u. a. an übergreifenden und landesweiten Konzepten. Einig waren sich die Teilnehmenden zudem darin, dass ausreichende und qualifizierte Sprachlernangebote – innerhalb und außerhalb der Schule – grundlegend sind. Dazu ist innerhalb und außerhalb der Schule Vernetzung notwendig. Schule ist ein wichtiger Ort der Bildung und der Ansprache von Kindern und Jugendlichen, der Übergänge schaffen kann. Doch darüber hinaus schafft der Bereich der selbstbestimmten Freizeit spezifische Räume für das Ankommen und Wohlfühlen in Deutschland. Betont wurde das besondere Potenzial Kultureller Bildung für stärkenorientierte Bildungsprozesse und für die Begegnung mit dem neuen Sozialraum.

9. Die finanzielle Förderung für die Arbeit mit Geflüchteten muss erweitert und aufeinander abgestimmt werden.

(Kulturelle) Bildungsarbeit braucht verlässliche Förderstrukturen und Planungshorizonte, die Entwicklungen ermöglichen – so das einhellige Plädoyer der Anwesenden. Programme müssen für die kulturpädagogische Arbeit mit Geflüchteten adäquat ausgestattet werden, da sich die Arbeit als sehr aufwändig erweist (z. B. wegen sprachlicher Barrieren und notwendiger pädagogische Betreuung). Als Erfolgsfaktoren für eine passgenaue Förderung, welche die Träger vor Ort auch von Bürokratie entlastet, wurden z. B. genannt:

  • die partizipative Entwicklung von Programmen,
  • die Transparenz von Förderstrategien und -programmen,
  • die Abstimmung von Förderaktivitäten in den Kommunen zwischen den Ressorts sowie ressortübergreifende Finanzpools.

10. Es braucht eine Balance zwischen Strukturförderung und Projekten, zwischen besonderer Aufmerksamkeit und inklusiven Förderansätzen.

In Bezug auf die Förderung wurde zudem hervorgehoben, dass zu Beginn zwar ad-hoc-Programme notwendig waren, diese aber in nachhaltige und verlässliche Förderinstrumente überführt werden müssen, welche die Infrastruktur für Kulturelle Bildung stützen und stärken. Zusätzlich ermöglicht die Förderung einzelner Projekte besondere Impulse. Eine sich verändernde Gesellschaft zieht ein verändertes kommunales Verwaltungshandeln und eine veränderte kulturelle Bildungspraxis nach sich. Diese Entwicklungsprozesse müssen auch in der Förderung berücksichtigt werden. Sonderprogramme können zwar wichtige Impulse setzen, sollten aber schnell übergreifend gedacht werden. Zu ermöglichen sind daher Ansätze, die …

  • integrativ und inklusiv ausgerichtet sind,
  • Einrichtungen und Angebote so verändern, dass Geflüchtete ebenso wie alle Kinder und Jugendlichen wirklich erreicht werden,
  • Geflüchtete nicht stigmatisieren.

Förderpolitische Strategien, die „Geflüchtete“ als „homogene Zielgruppe“ betrachten, sollten vermieden werden (Siehe Punkt 6).

Kulturelle Bildungsarbeit ist ohne die Unterstützung von Bund und Ländern nicht denkbar.

Kulturelle Bildungsarbeit in den Kommunen braucht die strukturelle, fachliche und finanzielle Unterstützung von Ländern und Bund – nicht nur bezogen auf die öffentliche Hand, sondern auch auf die Zivilgesellschaft mit ihren Netzwerken. Hier geht es nicht nur darum, sich gemeinsam für geflüchtete Kinder und Jugendliche einzusetzen, sondern auch darum, dass sich die Ebenen in Hinsicht auf Programme und Aktivitäten besser abstimmen und diese transparent kommunizieren. Die Vielfalt an Initiativen ist zwar für die Vor-Ort-Ebene wertvoll, führt aber, wenn sich daraus keine Verzahnungen und Synergien ergeben, zu mehr Aufwand und Verwirrung. Nicht nur in Hinsicht auf Förderungen, sondern auch auf den fachlichen Diskurs sind ebenenübergreifende Plattformen des Austauschs (Bund-Land-Kommune, Staat-Zivilgesellschaft) notwendig, um das Thema "Kulturelle Bildung und Geflüchtete"weiterzuentwickeln.

Kerstin Hübner leitet das Programm "Künste öffnen Welten" der BKJ und ist Referentin im Bereich Kooperationen und Bildungslandschaften.

Weitere Informationen

<link http: www.staedtetag.de presse mitteilungen index.html external-link-new-window pressemitteilung des deutschen>Pressemitteilung des Deutschen Städtetags "Flüchtlinge vor Ort in die Gesellschaft integrieren, Akzeptanz fördern – Städte brauchen weiter Unterstützung" vom 8. November 2016

<link https: www.bkj.de flucht po artikel id external-link-new-window stellungnahme der>Stellungnahme der BKJ "Recht auf Bildung und kulturelle Teilhabe geflüchteter Kinder und Jugendlicher umsetzen!" vom 6. Oktober 2015

Quelle: Kerstin Hübner / Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (BKJ) vom 22.12.2016

Back to Top