Hilfen zur Erziehung
Fachpolitische Position zu europäischer Jugendhilfe: Paradigmenwechsel der Hilfen zur Erziehung im Ausland
Der Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e.V. (be) fordert den Ausnahmecharakter von Hilfen zur Erziehung im Ausland aus der gesetzlich definierten Norm zu streichen. Die Ziele erzieherischer Hilfen müssten vielmehr ganzheitlich in einem erweiterten Bildungsbegriff aufgehen. Hierzu gehöre es auch, das soziale Umfeld vor Ort in der Hilfeplanung mitzudenken. Verantwortliche Arbeit in Gastländern müsse darauf ausgerichtet sein, die betreuten Jugendlichen für das neue kulturelle Milieu anschlussfähig zu machen.
11.05.2018
Begründung und Legitimation individualpädagogischer Settings im Ausland wurden lange Zeit abgeleitet von einem „… möglichst weit weg von…..“ – Jugendliche sollten auf Zeit weit weg vom Einfluss schädigender Milieus, weit weg von vertrauten urbanen, sprachlichen und kulturellen Räumen leben und sich entwickeln können. Für die Wahl einer Unterbringung im Ausland schien jedoch überwiegend die möglichst passgenaue Eignung des direkten Betreuungsstandortes / der Betreuungspersonen entscheidend zu sein. Hilfeplanung wurde ausschließlich im Rahmen einer solchen „Insel“ gedacht, Entwicklungsoptionen an die direkten Betreuungspersonen und ihr jeweiliges unmittelbares Familien- / Lebenssystem gebunden.
Die erweiterten Möglichkeiten, die durch die Einbeziehung des sozialen Umfeldes und der Netzwerke vor Ort (Vereine, Schulen u.a.) entstehen, blieben in dieser Arbeit lange Zeit verborgen und damit ungenutzt. Gerade diese Situationen und Freiräume ermöglichen es aber, nicht formale Lernerfahrungen zu machen. Bei näherer Betrachtung werden mittlerweile verpasste Chancen sichtbar: wir wissen heute, dass die für unser berufliches und privates Leben bedeutsamen Kompetenzen zu etwa 70% in nicht-formalen Kontexten erworben werden.
Ziele erzieherischer Hilfen in erweitertem Bildungsbegriff einbetten
In diesem Sinne muss Erziehung als Persönlichkeitsentwicklung und Selbstwirksamkeit mit dem Recht auf Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe und der Stärkung von Beschäftigungsfähigkeit verstanden werden und die Ziele erzieherischer Hilfen ganzheitlich in einem erweiterten Bildungsbegriff aufgehen: „Unter diesen Voraussetzungen modifizieren die individualpädagogischen Erziehungshilfen das Bild von der pädagogischen Provinz zu einem therapeutischen Milieu, in dem sozial anschlussfähige Kompetenzen selbstwirksam erworben und trainiert werden, so dass ermutigte und zuversichtliche junge Menschen sich den Herausforderungen ihrer jeweiligen Anschlussperspektiven stellen.“
Mit der Ausrichtung auf und Hinwendung der Hilfen zur Integration der vielfältigen informellen Lernräume im Gastland erweitern / verändern sich
- das Selbstverständnis der Arbeit
- die Zielgruppen
- Konzepte für Hilfen zur Erziehung im Ausland
- die Anforderungen an das Fachpersonal
Selbstverständnis der Arbeit im Feld und Zielgruppen
Wir verabschieden uns mit diesem Paradigmenwechsel konsequent von der lange gültigen Legitimation der Auslandshilfen als „finalem Rettungskonzept“ für junge Menschen, die einerseits mit den Symptomen ihrer gebrochenen Biografien die Hilfesysteme in Deutschland „überfordern“ und andererseits als „dauerbrennende Störfeuer“ in ihrem gesamten Umfeld Verantwortliche ratlos zurücklassen – die Wünsche nach Entlastung und Ruhepausen sind zwar nachvollziehbar, rechtfertigen jedoch keinesfalls, die Jugendlichen zeitweilig in anderen Ländern unterzubringen. Zu Recht fragen Gastländer, aber auch hiesige (politisch) Verantwortliche, mit welcher Legitimation öffentliche und freie Träger junge Menschen mit der ausschließlichen Hoffnung, dass eine Zeit lang kein weiterer großer Schaden entsteht, fernab der Heimat quasi „sicherheitsverwahren“ – denn das Gastland spielt in den Konzepten für diese Zielgruppe allenfalls in Teilen seiner Rahmenbedingungen eine Rolle (z.B. zivilisationsfern). Dass sich darauf reduzierte Gastländer schwer tun, diese jungen Menschen willkommen zu heißen, ist durchaus nachvollziehbar.
Verantwortliche Arbeit in Gastländern muss die Perspektive haben, dass – wenn auch erst nach einer gewissen Zeit des exklusiven Lebens im Mikrokosmos eines Betreuungs-Settings - die betreuten Jugendlichen anschlussfähig sein werden an Vergesellschaftung, Teilhabe und Entwicklung im neuen kulturellen Milieu.
Deutsche Jugendhilfe europäisch denken
Mit dem Instrument „Kompetenznachweis International“ (KNI) sagt der Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e.V. „Ja“ zur politischen Dimension und Verantwortung einer Jugendhilfe im europäischen Kontext. Der KNI wurde in seiner ursprünglichen Form für den Einsatz in der Internationalen Jugendarbeit von IJAB entwickelt. Im Jahr 2016 entstand daraus in einer Kooperation zwischen IJAB und dem Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e.V. eine Anpassung für den Einsatz im Bereich der Hilfen zur Erziehung im Ausland.
Der KNI macht den Kompetenz-Zuwachs der im Ausland betreuten Jugendlichen im Bereich des nicht-formalen Lernens exzellent sichtbar.
Er fördert überdies Chancengleichheit: im Kontext aller jungen Menschen, die in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung vom Nachweis ihrer Kompetenzen in internationalen Begegnungen profitieren, können sich mit dem KNI auch benachteiligte Jugendliche profilieren und damit ihre Ausgangslage bei der Suche nach Ausbildungs- und Arbeitsplätzen verbessern. Diese Form des Nachweises von Schlüsselkompetenzen kann gerade für jene, deren klassische formale Bildungsbiographie unvollständig ist, eine wichtige und authentische Ergänzung sein, die ihre Stärken sichtbar und erkennbar macht.
Damit ist der KNI ein Instrument, mit dem die jugendpolitischen Schwerpunkte der vergangenen Jahre exzellent umgesetzt werden können. Die ehemalige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Manuela Schwesig formulierte dies einmal folgendermaßen: „Europäische und internationale Jugendarbeit kann nicht losgelöst von nationaler Jugendarbeit betrachtet werden, so wie Politik in Deutschland nicht losgelöst von Europa gedacht und gemacht werden kann.“
Der Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e.V. macht sich dafür stark, dass der KNI flächendeckend in allen Hilfen zur Erziehung im Ausland eingesetzt wird. Bei der Umsetzung profitieren wir durch die Unterstützung wie auch die aktive Mitarbeit in der jugendpolitischen Initiative JiVE.
Perspektive
Auf der Grundlage der hier skizzierten Positionen machen wir uns weiterhin dafür stark, dass der Ausnahmecharakter von Hilfen zur Erziehung im Ausland endgültig aus der gesetzlich definierten Norm verschwindet.
Quelle: Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e.V.
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