Wissenschaft

Aufruf zum Handeln gegen die Kita-Krise

Das System der frühkindlichen Bildung in Deutschland steht vor dem Kollaps. Vier Wissenschaftler*innen warnen in einem Aufruf vor Überlastung, Stress und Erschöpfung in Kitas. Sie fordern die Politik auf, schnell zu handeln, mehr Mittel bereitzustellen, das Qualitätsentwicklungsgesetz umzusetzen und Kitas mit hohem Förderbedarf besser auszustatten.

30.09.2024

Zustand und Zukunft des Systems der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) in Deutschland sind alarmierend. Zahlreiche wissenschaftliche Daten und Berichte aus der Praxis belegen, das System ist stark belastet und steht kurz vor dem Kollaps. Vor diesem Hintergrund haben vier Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Disziplinen Mitte Juli einen Aufruf zum Handeln gegen die „Kita-Krise“ initiiert, der heute mit über 300 Mitzeichnungen veröffentlicht wurde. Der Aufruf „Überlastung, Stress und Erschöpfung in vielen Kitas: Wissenschaftler*innen schlagen Alarm und fordern die Politik zum schnellen Handeln auf“ richtet sich an politisch Verantwortliche, insbesondere auf Bundesebene.

Die vier Initiator*innen des Aufrufs sind Dr. Rahel Dreyer, Professorin für Pädagogik und Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre an der Alice Salomon Hochschule Berlin, Dr. Jörg Maywald, Honorarprofessor für Kinderrechte und Kinderschutz an der Fachhochschule Potsdam, Dr. med. Michael Schulte-Markwort, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medical School Hamburg und Ivonne Zill-Sahm, Professorin für Erziehung und Bildung im frühen Kindesalter an der Evangelischen Hochschule Dresden.

„Seit der Corona-Pandemie hat die Arbeitsbelastung von pädagogischen Fachkräften in Kitas stetig zugenommen. Sie gehören zu den Berufsgruppen mit den meisten Krankentagen, insbesondere wegen Erkrankungen der Psyche. Die psychische Gesundheit der Fachkräfte wirkt sich nachweislich auf die Gesundheit der Kinder aus. Die Kinder sind häufig gestresst und zeigen Formen von Erschöpfung und Unwohlsein – und das liegt unter anderem am Personalmangel und an überfüllten Gruppen“, 

so Prof. Dr. Rahel Dreyer. Dr. med. Michael Schulte-Markwort ergänzt: 

„Auch in den Familien sind die Belastungen enorm gestiegen. Nach den großen Einschränkungen durch die Kita-Schließungen während der Corona-Pandemie bringt nun die Kitakrise mit reduzierten Öffnungszeiten bis hin zur Schließung von Gruppen und ganzen Einrichtungen viele Familien ans Limit. Es gibt klare Hinweise auf erhöhte Spannungen in den Familien und einen Anstieg familiärer Gewalt.“

Der aktuelle Kita-Bericht des Paritätischen Gesamtverbandes unterstreicht die alarmierende Situation in den Kitas. Er zeigt sehr deutlich, dass sich zwischen 2021 und 2023 die Rahmenbedingungen in den meisten Einrichtungen drastisch verschlechtert haben. 68 Prozent der Befragten können mit dem tatsächlichen Personalschlüssel nicht angemessen auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen. Insbesondere Kitas in benachteiligten Sozialräumen gaben an, davon besonders betroffen zu sein.

Prof. Dr. Jörg Maywald:

 „Die aktuelle Situation widerspricht grundlegend den Grundbedürfnissen und Rechten von Kindern: Kinder brauchen stabile Bezugspersonen in verlässlichen Strukturen, die pädagogisch qualifiziert sind und passgenau auf die individuellen Bildungs- und Entwicklungsbedürfnisse von Kindern eingehen können. Die Folgen für Kinder, Eltern, Fachkräfte und die gesamte Gesellschaft sind jetzt schon durch eine Zunahme psychischer Auffälligkeiten sowie eine wachsende Bildungslücke fast irreparabel.“ 

Prof. Ivonne Zill-Sahm betont: 

„Um den drohenden Zusammenbruch des Systems abzuwenden, sind jetzt erhebliche Investitionen und mittelfristig eine kontinuierliche Erhöhung der Ressourcen für das System der FBBE nötig. Die bildungsökonomische Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass vor allem frühkindliche Bildungsangebote langfristig wirksam sind, weil Kinder davon über ihr gesamtes Leben profitieren. Dies hat auch positive volkswirtschaftliche Auswirkungen, da jeder investierte Euro durch zum Beispiel höhere Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen drei- bis vierfach für die Gesellschaft zurückkommt.“

In ihrem Aufruf zum Handeln gegen die „Kita-Krise“ fordern die Initiator*innen, zusätzliche Finanzierungsmittel für weitere Qualitätsverbesserungen aufzuwenden, das Qualitätsentwicklungsgesetz endlich auf den Weg zu bringen und die sogenannte „Gesamtstrategie Fachkräfte in Kitas und Ganztag“ des BMFSFJ um kurzfristige Maßnahmen zu ergänzen sowie mit einem Sondervermögen finanziell ausreichend auszustatten. Außerdem fordern sie, in Bundesländern, wo ein Rückgang der Kinderzahlen zu verzeichnen ist, die freiwerdenden Ressourcen in die Verbesserung des Fachkraft-Kind-Schlüssels zu investieren, Kitas mit einem hohen Anteil von Kindern, die besonders von sozialer Benachteiligung betroffen sind, personell und materiell besser auszustatten sowie die Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Forschung zu stärken, um den Qualitätsprozess kritisch-konstruktiv begleiten zu lassen.

Für Rückfragen und weitere Auskünfte steht Prof. Dr. Rahel Dreyer zur Verfügung: dreyer@ash-berlin.eu

Quelle: Deutscher Präventionstag vom 16.09.2024

Redaktion: Lukas Morre

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