Reformansätze
Armutsrisiko von alleinerziehenden Familien verharrt auf hohem Niveau

Der Anteil der alleinerziehenden Familien, die von Einkommensarmut gefährdet sind, bleibt hoch. Obwohl sie häufig einer Erwerbstätigkeit nachgehen, können viele Alleinerziehende keine gesicherte Existenz für sich selbst und ihre Kinder schaffen. Weitere Reformen sind notwendig – auch, um die Corona-Belastungen zu mildern. Zu diesem Schluss kommt eine von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegebene Studie.
15.07.2021
Das Risiko, in Armut zu leben, ist für alleinerziehende Familien in Deutschland von allen Familienformen am höchsten: 43 Prozent der Ein-Eltern-Familien gelten als einkommensarm, während es bei den Paarfamilien mit einem Kind 9 Prozent, mit zwei Kindern 11 Prozent und mit drei Kindern 31 Prozent sind. Frauen sind in besonderer Weise davon betroffen, denn 88 Prozent der Alleinerziehenden sind Mütter. Zwar ist der Anteil der Alleinerziehenden, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II beziehen, seit 2015 zurückgegangen: in den westdeutschen Bundesländern von 36 auf 34 Prozent, im Osten sogar von 43 auf 33 Prozent. Das deutet darauf hin, dass politische Anstrengungen – wie die Reformen von Unterhaltsvorschuss und Kinderzuschlag – dazu beigetragen haben, alleinerziehende Familien aus dem SGB II-Bezug zu lösen. Trotzdem ist ihr Anteil unter den SGB II-Haushalten mit 34 Prozent fast fünfmal höher als bei Paarfamilien mit Kindern (7 Prozent). Wie die neue Studie "Alleinerziehende weiter unter Druck" von Anne Lenze (Hochschule Darmstadt) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zeigt, ist das Risiko der Einkommensarmut für alleinerziehende Familien nicht gesunken, sondern verharrt auf hohem Niveau.
Trotz Arbeit abgehängt
Das höhere Armutsrisiko alleinerziehender Familien ist dabei nicht auf mangelnde Erwerbstätigkeit zurückzuführen. So gehen alleinerziehende Mütter häufiger einer Beschäftigung nach als andere Mütter und arbeiten öfter in Vollzeit. Zudem üben auch 40 Prozent der Alleinerziehenden im SGB II-Bezug eine Erwerbstätigkeit aus – häufiger als der Durchschnitt der Leistungsempfänger/-innen. Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, sagt:
"Alleinerziehende leisten im Alltag enorm viel und erfahren dafür zu wenig Anerkennung. Oftmals sorgen sie allein für ihre Kinder und gehen zusätzlich einer Erwerbstätigkeit nach. Trotzdem reicht das Einkommen häufig nicht aus. Arm trotz Arbeit – damit darf sich unsere Gesellschaft nicht abfinden."
Dräger zufolge ist das Armutsrisiko alleinerziehender Eltern die größte Belastung für die Zukunftsperspektiven ihrer Kinder: 45 Prozent aller Kinder im SGB II-Bezug leben in einer alleinerziehenden Familie.
Nochmals höhere Belastungen durch Corona
Nach Drägers Einschätzung haben alleinerziehende Familien die Folgen der Covid-19-Pandemie in besonderer Weise zu spüren bekommen. Denn häufig arbeiten Alleinerziehende im Niedriglohnbereich und in systemrelevanten Berufen, und leben in beengten Wohnungen. Durch geschlossene Schulen, Kitas und Vereine fehlten den Eltern Entlastungsangebote in der Betreuung und den Kindern die wichtigen sozialen Kontakte:
"Die Corona-Auswirkungen setzen Alleinerziehende nochmals höheren Belastungen aus und bringen sie an die Grenzen ihrer Gesundheit. Es muss mehr getan werden, um alleinerziehende Familien zu entlasten, finanziell zu unterstützen und damit auch den Kindern zu helfen."
Zur Vermeidung von Kinderarmut empfiehlt die Bertelsmann Stiftung die Einführung eines Teilhabegeldes, das finanzielle Leistungen für Kinder bündelt, einfach zu beantragen ist und gerade Alleinerziehende erreicht. Die Politik sollte außerdem die Mehrbedarfe von getrennten Familien empirisch erfassen und absichern. Das betrifft zum Beispiel zusätzliche Anschaffungs- oder Wohnkosten, wenn Kinder in zwei Haushalten leben. Weiterer Handlungsbedarf entsteht aus dem häufigen Ausfall von Unterhaltszahlungen, die nur in etwa einem Viertel der Fälle in Höhe des Mindestunterhalts ankommen. Um alleinerziehende Mütter und Väter zu entlasten, schlägt die Bertelsmann Stiftung vor, die Unterhaltsansprüche auf den Staat zu übertragen, damit dieser sie einfordern kann. Außerdem sollte das Unterhaltsrecht stärker die innerfamiliäre Aufgabenteilung vor der Trennung berücksichtigen. Denn es sind überwiegend die Mütter, die ihre Arbeitszeit zugunsten der Kinderbetreuung reduzieren. Im Falle einer Trennung drohen ihnen somit empfindliche Einbußen beim Lebenserwerbseinkommen.
Neuauflage der Social-Media-Kampagne #StopptKinderarmut
Die schwierige Lage alleinerziehender Familien nimmt die Bertelsmann Stiftung zum Anlass, um an die Social-Media-Kampage #StopptKinderarmut anzuknüpfen, die bislang 1,1 Millionen Abrufe auf Youtube erzielt hat. Parallel zur Veröffentlichung der aktuellen Studie machen bekannte Persönlichkeiten aus Medien, Kultur und Sport – darunter Hatice Schmidt, Leeroy Matata und Henry Maske – mit Beiträgen in den sozialen Netzwerken auf die fatalen Auswirkungen von Kinderarmut für die Betroffenen aufmerksam.
Zum Hintergrund der Studie
2019 lebten in Deutschland 1,52 Millionen alleinerziehende Familien mit Kindern unter 18 Jahren. Das sind19 Prozent aller Familien. Alleinerziehende sind der amtlichen Statistik zufolge Mütter und Väter, die ohne Ehe- oder Lebenspartner/-in mit minder- oder volljährigen Kindern in einem Haushalt zusammenleben. Die Zahlen zur Einkommensarmut stammen vom Statistischen Bundesamt und beziehen sich auf das Jahr 2019. Die Daten zum SGBII-Bezug aus dem Jahr 2020 sind bei der Bundesagentur für Arbeit abrufbar.
Über die Bertelsmann Stiftung
Die Bertelsmann Stiftung setzt sich dafür ein, dass alle an der Gesellschaft teilhaben können – politisch, wirtschaftlich und kulturell. Die Themen: Bildung, Demokratie, Europa, Gesundheit, Werte und Wirtschaft. Der Mensch wird dabei in den Mittelpunkt gestellt. Dafür erschließt die Bertelsmann Stiftung Wissen, vermittelt Kompetenzen und erarbeitet Lösungen. Mehr Informationen gibt es auf der Website der Stiftung.
Quelle: Bertelsmann Stiftung vom 15.07.2021
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