Kinder- und Jugendpsychiatrie

Viele junge Patientinnen mit Essstörungen in der Ambulanz

„Die Magersucht ist eine schwerwiegende Erkrankung - je früher sie behandelt wird, desto größer sind die Erfolgsaussichten“, sagt Kathrin Steinberg (rechts), Oberärztin der LWL-Universitätsklinik Hamm und Leiterin der Sprechstunde für Essstörungen.

Seit Beginn der Pandemie verzeichnen die kinder- und jungendpsychiatrischen Einrichtungen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) einen größeren Zulauf an jugendlichen Patientinnen in den Essstörungsambulanzen.

12.03.2021

Auch der Bedarf nach stationären Behandlungsplätzen ist zum Beispiel an der LWL-Universitätsklinik Hamm für Kinder- und Jugendpsychiatrie inzwischen gestiegen, so dass das Angebot aufgestockt wurde.

„Die Zunahme der Fälle von jugendlichen Patientinnen mit Essstörungen zeigt, wie Coronafaktoren und die typischen Ursachenbündel an der Entwicklung einer psychischen Störung zusammenwirken“, erklärt LWL-Krankenhausdezernent Prof. Dr. Meinolf Noeker. „Wenn unter Corona alles andere wegbricht, wird das Kümmern um das eigene Aussehen zur einzig verbliebenen, aber gefährlichen Quelle für Zuwendung, Erfolgserlebnis und Sinn“, so Noeker. „Eine solche Verengung und Verzerrung des eigenen Blicks wäre bei vielen Betroffenen vielleicht auch ohne Corona passiert, aber Corona lässt sie schneller in eine solchen Sog hineingeraten und lässt die Spirale dann um so schneller drehen“, erläutert Noeker, der auch approbierter psychologischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut ist.

Corona-Alltag: Die Gedanken drehen sich häufiger um sich selbst und im Kreis

Kein regelmäßiger Schulbesuch, kein Sport, keine sozialen Kontakte und viel Zeit zuhause – so sieht der Alltag für viele Kinder und Jugendliche derzeit aus. „Für die meisten eine ungewohnte Situation, in der sich die Gedanken häufiger um sich selbst und im Kreis drehen“, berichtet auch Kathrin Steinberg, Oberärztin der LWL-Universitätsklinik Hamm und Leiterin der Essstörungsambulanz. In dieser Situation zeigt sich derzeit eine Zunahme an Jugendlichen, die sich hilfesuchend an die Essstörungsambulanz wenden, da sie eine Magersucht entwickelt haben oder eine bestehende Magersucht nicht mehr unter Kontrolle halten können.

„Mein regelmäßiges Fußballtraining fiel weg, also habe ich mir ein eigenes Sport-Trainingsprogramm aufgebaut, um weiterhin fit zu bleiben. Gleichzeitig wollte ich auch etwas abnehmen. Zu Beginn meines Trainings habe ich mich noch normal ernährt, später jedoch habe ich immer weniger gegessen und umso mehr Sport gemacht“, berichtet Lena (Name geändert), eine 16-Jährige Patientin, die derzeit auf der Station für Essstörungen in der LWL-Universitätsklinik Hamm behandelt wird. Sie leidet unter Anorexie nervosa, besser bekannt als Magersucht.

Zehn Kilogramm nahm sie im ersten Jahr ab – obwohl sie nicht übergewichtig war. Zu Beginn habe sich das noch gut angefühlt, doch später empfand sie eine große emotionale Leere und Gleichgültigkeit. „Meine Gefühle waren wie ausgelöscht, ich konnte weder glücklich sein noch traurig“, beschreibt sie ihren Gemütszustand. Hinzu kamen körperliche Veränderungen, sie litt unter Haarausfall, war nicht mehr leistungsfähig, fühlte sich rund um die Uhr müde und kraftlos. Gemeinsam mit ihrer Mutter suchte sie Hilfe in der ambulanten Sprechstunde für Essstörungen der Hammer Fachklinik. Dies ist die erste Anlaufstelle für essgestörte Jugendliche.

Schnell war klar, dass eine ambulante Behandlung nicht ausreichte und eine Gewichtszunahme aus eigenem Antrieb nicht umsetzbar war. „Die Wahl, ob eine Behandlung ambulant, tagesklinisch oder stationär durchgeführt werden kann, ist abhängig davon, wie schwer die Erkrankung ist, welche Begleiterkrankungen, wie beispielsweise eine Depression, Angsterkrankung oder Zwänge, vorhanden sind und welche Möglichkeiten vor Ort zur Verfügung stehen“, erklärt Steinberg.

Oft beginnt es mit harmlos wirkenden Diäten

Auch Anna (Name geändert), ebenfalls 16 Jahre alt, ist sportlich sehr motiviert. Den Wegfall des Volleyball-Trainings versuchte sie mithilfe eines eigenen Trainings- und Ernährungsprogramms auszugleichen. Dabei steigerte sie den Anteil des Sportprogramms bei gleichzeitiger Reduzierung der Nahrungsaufnahme. Am Ende verlor sie 20 Kilogramm in nur sechs Monaten. Doch je weniger Gewicht die Waage angezeigt hat, desto dicker fühlte sie sich.

Die Anorexia nervosa beginnt oft mit einem harmlos wirkenden Diätverhalten, etwa durch Weglassen von Süßigkeiten, einer vegetarischen Ernährung oder Verringerung der Essensmengen. Die Betroffenen versuchen, ihr Essverhalten stark zu kontrollieren und nehmen immer weiter ab. Sie erleben sich selbst aber als zu dick und leben in ständiger Angst davor, dass sie zunehmen oder die Kontrolle über ihr Essverhalten verlieren könnten. Bei der Magersucht ist das Körpergewicht so niedrig, dass es zu einer körperlichen Gefährdung bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen kommen kann. „Neben der Magersucht behandeln wir auf unserer Essstörungs-Jugendstation auch Kinder und Jugendliche mit Ess-Brechsucht (Bulimie) und Essanfällen (Binge Eating). Im Vordergrund steht, dass die Kinder und Jugendlichen wieder ein normales, ausgewogenes Essverhalten entwickeln und insbesondere bei der Anorexie ein gesundes, altersentsprechendes Gewicht erreichen. Sie werden dabei unterstützt, sich ihre Mahlzeiten zusammenzustellen und Ängste in Bezug auf Essen, Figur und Gewicht abzubauen,“ sagt Steinberg.

Wichtig ist eine möglichst frühe Behandlung, damit chronische Verläufe vermieden und die Erfolgsaussichten deutlich verbessert werden können. Essstörungen sind schwerwiegende Erkrankungen, die über mehrere Jahre verlaufen können. Wissenschaftliche Untersuchungen weisen darauf hin, dass eine frühzeitige Diagnose und Behandlung die Aussicht auf Heilung deutlich verbessert. Insbesondere die Forschung spielt auf diesem Gebiet eine große Rolle, mit innovativen Studien werden festgefahrene Essstrukturen erforscht und möglichst früh behandelt.

Weiterführende Informationen

Hilfe bei Essstörungen im Netz

  • Die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA) stellt vielfältige Informationen für Angehörige als Broschüren wie auch im Internet bereit: www.bzga-essstoerungen.de
  • Über Angehörigenthemen bei einer Vielzahl psychischer Erkrankungen informiert zum Beispiel der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BApK): www.bapk.de 

Forschungsstudie zu Essstörungen

In der LWL-Universitätsklinik Hamm für Kinder- und Jugendpsychiatrie laufen Forschungsstudien zum Thema Essstörungen. Insbesondere für die EXIT-Studie werden Studienteilnehmer/-innen dringend gesucht:

Rund ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen berichtet von Kontrollverlust beim Essen, was ein Kernmerkmal der Essstörungen Bulimie und Binge Eating darstellt. Folgen von unbehandelten Symptomen wie Essanfälle mit Kontrollverlust im Jugendalter können medizinische Komplikationen wie Stoffwechselstörungen (z. B. Diabetes) sein und gehen häufig mit Übergewicht und anderen psychischen Störungen einher. Um die Folgen von Essanfällen einzudämmen und die Behandlung in diesem Bereich zu verbessern, will die Uniklinik die Wirkung einer besonderen therapeutischen Strategie der kognitiven Verhaltenstherapie zum Umgang mit Essanfällen untersuchen. Dabei bieten die Klinik Exit-Strategien aus festgefahrenen Essstrukturen an. Verhaltenstherapeutische Übungen stehen dabei im Mittelpunkt. Sie können helfen, das Verlangen und die Impulsivität in Bezug auf bestimmte Nahrungsmittel zu reduzieren. Diese Studie richtet sich an weibliche Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, die unter Essanfällen leiden und Schwierigkeiten haben, ihre Impulse in Bezug auf das Essen zu kontrollieren. Die Studie wird in Kooperation mit der Universitätsmedizin Mainz durchgeführt.

Wer Interesse hat, an der Studie teilzunehmen oder weitere Fragen stellen möchte: Ansprechpartnerin ist Laura Derks, M. Sc. Klinische Psychologie, E-Mail: exit-studie@rub.de, Telefon: 02381 893-8155.

Der LWL im Überblick

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit mehr als 18.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 116 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.

Quelle: LWL-Universitätsklinik Hamm vom 08.03.2021

Redaktion: Kerstin Boller

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