Interview

Pädagogik mit Tieren im Lockdown

Im Projekt „Ross & Racker“ sind Pferde für die pädagogische Arbeit mit Kindern im Einsatz. Wie sich die Corona-Pandemie auf die Kinder und ihre vierbeinigen Therapeuten auswirkt, erzählt Reitpädagogin Mona Pelz vom SOS-Kinderdorf Harksheide im Interview.

06.05.2021

Frau Pelz, wie kann man sich die Reitpädagogik im SOS-Kinderdorf Harksheide vorstellen?

Die Reitpädagogik ist ein individuelles Angebot für Kinder, die Schwierigkeiten im Bereich des sozialen und emotionalen Verhaltens haben. Sie öffnet besonders belasteten Kindern auf sehr unkomplizierte und niedrigschwellige Weise wieder Zugang zu sich selbst und zu anderen: Im spielerischen aber zielgerichteten Umgang mit den Pferden werden den Kindern andere Formen von Interaktion angeboten, die die Defizite in ihrem Handlungsrepertoire berücksichtigen und ihnen gleichzeitig Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen.

Wie hat sich die Arbeit in der Reitpädagogik unter den Corona-Bedingungen verändert?

Im Frühjahr 2020, als Corona am Horizont auftauchte und über Schulschließungen gesprochen wurde, haben wir gemerkt, dass die Kinder, die zu uns kommen, unglaublich erschöpft waren. Das fing langsam an. Da ging es nicht mehr so sehr um die aktuellen Entwicklungsthemen, sondern mit einem Mal kamen in den Kindern frühe biografische Erlebnisse hoch. Das war überraschend für uns, weil die Kinder hier im Umgang mit den Pferden normalerweise wenig aus ihrer Geschichte erzählen. Meistens sind sie sonst ganz verbunden im Hier und Jetzt. Plötzlich ging es aber viel mehr um Fragen wie: Warum muss ich überhaupt im Kinderdorf leben? Warum darf ich nicht bei meinen Eltern leben? Diese Themen waren sehr präsent - so deutlich, dass wir in den Teams im Kinderdorf genauer nachgefragt haben, wie das war. Schließlich wollten wir damit ja adäquat umgehen können. 

Welche Erfahrungen haben Sie konkret gemacht?

Im ersten Lockdown wurde offensichtlich, wie erschöpft die Kinder tatsächlich waren: Sie haben auf den Pferden oder in der Futterraufe nur noch geschlafen. Oder Kinder haben sich in die Mitte der Reithalle, in der auch ein paar Pferde waren, auf eine Decke gelegt und erzählt - und sind dabei eingeschlafen. Also eine ganz tiefe Erschöpfung, die bisher in unserer Arbeit nicht auftauchte. Das hat uns sehr beschäftigt, und wir haben uns dazu intensiv mit den Betreuungspersonen im Kinderdorf ausgetauscht. Es wurde deutlich, dass sich die Kinder in der Einrichtung während der massiven Corona-Einschränkungen unglaublich angestrengt haben, um alles richtig zu machen und kooperativ zu sein. Die Kolleg/-innen haben berichtet, dass sie z.B. in der Zeit ganz viel Tee gekocht bekommen haben oder dass die Kinder auf einmal freiwillig den Müll herausgebracht haben, was es noch zuvor nie gegeben hätte. Diese Anstrengung passte zu der Erschöpfung der Kinder, die wir erlebt haben. Es war quasi die Kehrseite davon.

Ließ sich auch bei den Pferden eine Veränderung beobachten?

In der Pferdeherde haben wir gleichzeitig bemerkt, dass die Pferde viel mehr im flachen Liegen geschlafen haben als sonst. Es ist kein gutes Zeichen, wenn Pferde so viel liegen. So haben wir uns Gedanken gemacht, was wir mit unseren Pferden machen können - denn es war uns bewusst, dass sie die Situation nicht lange durchhalten würden. Über die Beschäftigung mit Stressphänomenen und der Frage, wie sich Stress auf das vegetative Nervensystem auswirkt und was man dagegen tun kann, kamen wir auf eine Idee: Wir haben das Training der Pferde umgestellt und ihnen Sport verordnet, so wie Menschen mit Depressionen von Bewegung und Sport profitieren. Und tatsächlich: Die Pferde sind darüber wieder zu Kräften gekommen.

Wie ging es nach dem ersten Lockdown weiter?

Nach dem ersten Lockdown haben die Kinder angefangen, sich auf die Sommerferien zu freuen. Das hat ihnen viel Energie gegeben - Ferien sind irgendwie normal, man verreist, und alle haben wieder Kraft geschöpft. Nach den Sommerferien gab es dann eine Phase der Beruhigung, so als ob eine neue Normalität eingekehrt wäre. Und Anfang Oktober, als die zweite Welle kam, rückte das Virus wieder mehr in den Vordergrund. Ein Junge hat das auf den Punkt gebracht: „Jetzt haben wir wieder Corona!“, und er hat dabei geweint auf seinem Pferdchen.  Die Erschöpfung tauchte also wieder  als Thema auf.

Seit Ende letzten Jahres bzw. Anfang dieses Jahres erleben wir, dass sich die Kinder zunehmend destruktiv verhalten. Es wirkt, als ob sie nicht mehr können, und es scheint, dass es viel um Zerstörung geht. Manche Kinder wenden sich ganz nach innen, sind sehr zornig mit sich. Und wenn bei ihnen nicht alles sofort klappt, verurteilen sie sich selbst dafür. Andere gehen eher nach außen in aggressiver Weise. Interessant ist die Reaktion der Pferde: Sie wollen mit Aggression nichts zu tun haben. Sie laufen z.B. weg, wenn die Kinder auf die Koppel kommen. Das hat uns richtig erschrocken im Januar.  Pferde reagieren eben unmittelbar auf die Körpersprache der Menschen. Da haben wir uns schon gefragt, wo das noch hinführen soll.

Spannend ist auch, dass Kinder mehr destruktives Verhalten zeigen unabhängig davon, aus welcher Lebenssituation sie kommen: Ob es Schulkinder sind, mit denen wir auch arbeiten, die bei ihren Eltern leben, oder ob die Kinder aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder aus dem Kinderdorf kommen. Diese erste Erschöpfung und jetzt diese große Wut oder Zerstörung ziehen sich bei allen durch, obwohl ihre Situation sehr verschieden ist. 

Wie gehen Sie konkret mit diesen Belastungen um?

Im ersten Lockdown haben wir die Kinder einfach erzählen lassen und angelehnt an die traumasensible Pädagogik versucht, sie gut zu behüten. Jetzt arbeiten wir mit Tempo und viel Bewegung. Das heißt, wenn die Kraft nicht weiß wohin, so wie wir es jetzt erleben, erhöhen wir die Geschwindigkeit: Dann galoppieren wir, rennen in der Halle, machen Reitergymnastik, bei der man sich viel bewegen muss. Wir versuchen damit, der Energie einen Abfluss zu geben.

Wir haben inzwischen erkannt, dass es in diesem Jahr kaum möglich ist, bei den Kindern Entwicklungsprozesse anzuregen, die nach vorne gerichtet sind. Alle Kinder, die zur Reitpädagogik kommen, befinden sich eher in einer Art Krisenmodus. Wir unterstützen sie darin, die aktuelle Situation so gut wie möglich zu bewältigen, damit sie Halt finden. Wenn alles irgendwie unsicher ist, dann gilt es Momente zu schaffen, in denen sie so sein dürfen, wie sie sich gerade fühlen, in denen sie ihre Kraft erleben können. Es ist für sie gerade nicht die Zeit, neue Strategien zu lernen oder sich Ziele für die Zukunft zu stecken. Von daher hat die nun schon seit einem Jahr anhaltende Corona-Situation ganz erhebliche Auswirkungen auf die jungen Menschen.

Würden Sie so weit gehen zu sagen, das ist ein verlorenes Jahr für die Entwicklung von Kindern?

Nein, Krisen sind keine verlorenen Zeiten. Sie sind anstrengend, aber ohne Krise gibt es auch keine Entwicklung. Ich muss die Krise überleben, muss sie bewältigen können. Ich gehe davon aus, dass die Kinder jetzt Dinge lernen, die sie ohne Corona nie gelernt hätten. Ob das sinnvoll ist oder nicht, stellt sich als Frage nicht. Wir können die Situation ja nicht ändern. Meine Überlegung ist, wenn ich eine Krise überstanden habe und nicht in eine Retraumatisierung gefallen bin, dann geht es hinterher ein bisschen besser - und ich gehe etwas gestärkter in die Welt.

In einer Krisensituation kommen viele Emotionen hoch, die zwar immer da sind, aber nicht die ganze Zeit im Vordergrund stehen. Große Ängste nehme ich vielleicht im normalen Lebensalltag gar nicht so wahr, solange ich mich in meiner Umgebung insgesamt sicher fühlen kann. In der Krise kommen die Ängste hoch. Wenn ich dann erlebe, dass ich damit nicht allein gelassen werde, sondern dass mich Menschen begleiten, spüre ich, dass ich auch mit dieser Angst überleben kann. Das ist ein enormer Erfahrungsschatz. Von daher würde ich nicht von einem verlorenen Jahr sprechen. Aber klar ist auch: Es ist ein vollkommen anderes Jahr! Ich würde sagen, dass unsere Kinder im Verhältnis zu vielen anderen in gewisser Weise noch Glück haben. Wir tun, was wir können, um für sie in der Krise etwas Gutes entgegenzusetzen. Dieser Gedanke trägt uns hier in der Arbeit. Wir lassen diese Kinder in der Krise nicht allein, sondern wir setzen bewusst etwas dagegen. Und das tun wir aus tiefer Überzeugung.

Mona Pelz, Reitpädagogin im SOS-Kinderdorf Harksheide

Quelle: SOS-Kinderdorf e.V.

Redaktion: Annika Klauer

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