Qualifizierung

Jugendliche mit Migrationshintergrund am Übergang Schule – Ausbildung

"Familien mit Migrationshintergrund sind so vielseitig wie Familien ohne Migrationshintergrund" – so lautete das Fazit des Fachtags "Jugendliche mit Migrationshintergrund am Übergang Schule – Ausbildung", der am 08. Mai in Berlin stattfand. Der Paritätische Landesverband Berlin stellt hier einen ausführlichen Bericht vor.

29.05.2015

Elvira Kriebel, Bundeskoordinatorin für Jugendsozialarbeit im Paritätischen Gesamtverband und Referentin für Schulbezogene Jugendhilfe beim Paritätischen Berlin, erläuterte in ihrer Einleitung zunächst die Relevanz des Themas. Junge Menschen mit ausländischen Wurzeln sind nach dem 14. Kinder- und Jugendbericht in Deutschland noch immer benachteiligt, wenn es um Bildungs- und Berufschancen geht. Abhilfe können gelingende Übergänge schaffen. Wie diese aussehen können, diskutierten u.a. der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Werner Sacher von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg und Tabea Schlimbach, wissenschaftliche Referentin beim Deutschen Jugendinstitut e.V. in ihren Vorträgen.

Benachteiligung und Diskriminierung

Tabea Schlimbach präsentierte zunächst Einblicke in die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit, die im Herbst veröffentlicht werden. Es gäbe vor allem immer weniger jugendliche Experimentierräume, die Übergänge ins Berufsleben vereinfachen würden. Auch durch die Verdichtung der Leistungsanforderungen würden diese Prozesse weniger als Berufsorientierung sondern vielmehr als Scheitern wahrgenommen werden. Der Faktor Migration bedeute dabei oft schlechtere soziale und finanzielle Ressourcen und Diskriminierung sowie daraus resultierende schlechtere Schulleistungen und ein erhöhtes Risiko, ohne Qualifikation die Schule/Ausbildung abzubrechen.

Die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund würden ihre potenziellen Unterstützer vermehrt nach dem Vertrauensverhältnis aussuchen. Mehr noch als bei den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund zähle dabei die Meinung der Eltern. Diese seien im Gegenzug oftmals dazu bereit, enorme Unterstützung zu leisten, um ihre Kinder zu fördern. Sie hätten aber oftmals nicht den Zugang zu differenziertem Wissen über Berufschancen, z.T. gäbe es Vorurteile über Männer- und Frauenberufe und oft fehle der Türöffner zu höher qualifizierten Berufsgruppen. Diese Funktion übernehmen hier vermehrt ältere Geschwister. Die Kinder würden die Bemühungen ihrer Eltern allerdings wertschätzen und sich ihnen verpflichtet fühlen.

Ein Balanceakt – vor allem für Mädchen – zwischen kulturell vermittelten Rollenbildern, vorehelichem Auszugsverbot und Partnerwahl. Dabei empfinden alle Jugendlichen – egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund – den Übergang ins Berufsleben als belastend. Es sei laut Frau Schlimbach besonders erschreckend gewesen, wie schlecht das Wissen über institutionelle kommunale Unterstützungsangebote sei. Auch hier berichteten einige Jugendliche in den biografischen Interviews über Diskriminierung, auch wenn diese Erlebnisse oft eher angedeutet wurden. Denn erst bei konkreten Vergleichsfällen könnten die Jugendlichen solche Vorfälle überhaupt erst als Diskriminierung einordnen. Frau Schlimbach betonte abschließend noch einmal den hohen Wert von Mentoring-Programmen für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Allerdings müssten diese Programme auf stabilen Strukturen basieren. Es helfe nichts, wenn der Mentor nach ein paar Wochen nicht mehr zur Verfügung stehen.

Die Rolle der Eltern

Prof. Dr. Sacher lieferte in seinem anschließenden Vortrag zunächst einmal spannende Zahlen: 19,95 % der Jugendlichen in Deutschland habe einen Migrationshintergrund. 44 % davon fänden einen Ausbildungsplatz, 29 % würden keinen finden. Erschreckend dabei: Das Abitur sei eher kontraproduktiv, denn 21 % der Hauptschüler, 29 % der Realschüler, aber nur 24 % der Abiturienten fände einen Ausbildungsplatz. Jugendliche mit Migrationshintergrund hätten ein dreimal so hohes Risiko, keinen Ausbildungsplatz zu finden, wie Jugendliche ohne. Die Armutsgefährdung läge bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund unter Hauptschülern bei 16,4 %, unter Realschülern bei 10,9 % und unter Abiturienten bei 19,9 %.

Als Informationsquelle für die Berufsorientierung wurden hauptsächlich (74 %) die Eltern genannt. Allerdings wurde die Effizienz dieser Information eher als niedrig eingestuft. 91 % würden von den Eltern unterstützt bei der Berufswahl. Allerdings glauben 2/3 aller Eltern hier keinen großen Einfluss zu haben. Ein Trugschluss? Die Eltern seien als Berufsberater oft nicht kompetent: Ihre Vorstellungen zur Berufswahl seien oft veraltet, 25 % können die Stärken/Schwächen ihrer Kinder gar nicht einschätzen, es fehle oftmals an Sprachkompetenz und Systemwissen. Dennoch überschätzen rund 3/4 der Jugendlichen mit Migrationshintergrund den Rat ihrer Eltern. 61 % hätten sogar eine eher passive Grundhaltung (Eltern sollen entscheiden).

Prof. Sacher gab nun anschließend auch Tipps, wie Eltern gemeinsam mit institutionellen Anbietern ihren Kindern zur Seite stehen könnten. Er betonte dabei, dass es nicht darum ginge, dass die Eltern "Experten zur Berufsinformation" werden sollten. Vielmehr ginge es dabei, die Jugendlichen zu unterstützen bei ihrer inneren und äußeren Exploration – Vorgängen, die man ihnen nicht abnehmen könne. Sie müssten eigenes Interesse, Initiative und Wissen über ihre Werte und Stärken/Schwächen sowie über den Stellenmarkt erlangen. Eltern sollten dabei eine hohe optimistische Erwartung zeigen, offen sein für Kommunikation, eine anregende Erziehung zur Autonomie praktizieren, emotional unterstützen und gemeinsam mit Jugendsozialarbeitern und Berufsberatern daran arbeiten. Denn die wirklichen inhaltlichen Informationen sollten von professionellen Institutionen kommen. Hier sieht Prof. Sacher vor allem Handlungsbedarf auf dem Feld der Elternarbeit – um eine Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zu bilden. Das umfasse neben den Eltern oft auch Großeltern, Geschwister und das soziale Umfeld. 

Themenforum "Eltern/Familien"

Nach der Mittagspause wurden im zweiten Teil der Veranstaltung zwei Diskussionsrunden geführt. In der ersten ging es um das Themenforum "Eltern/Familien". Impulse gaben hier Christa Kirchhoff von Pfefferwerk Stadtkultur gGmbH ("Mir ist es wichtig zu zeigen, was Schulsozialarbeit im Interesse der Jugendlichen bereits leistet. Die Eltern ziehen sich oft ab der sechsten bis achten Klasse aus dem Schulleben der Kinder zurück. Wir brauchen eine Willkommenskultur in der Elternarbeit, bei der wir einfache zwischenmenschliche Regeln befolgen müssen. Warum müssen z.B. Elternzusammenkünfte immer an den Schulen stattfinden?"), Dr. Mehmet Alpbek, Bundesgeschäftsführer der Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland ("Familien mit Migrationshintergrund sind so vielseitig wie Familien ohne Migrationshintergrund"), Dr. Hans-Günther Bauer,  Schulleiter Bröndby-Oberschule ("Auch in Leitungsfunktionen an Schulen müssen Personen mit Migrationshintergrund als Vorbild sitzen. Eltern an unserer Schule müssen ihre Berufe den Kindern näherbringen. Dadurch entsteht auch ein engerer Kontakt zur Schule und zur Pädagogik. Wichtig sind auch die Potenzialanalysen, die externe Kooperationspartner durchführen. Da sehen die Eltern auch, dass Schulnoten nicht alles sind. Und so schön farbig kriegen sie die Schulzeugnisse nie."), Holger Spöhr, Referent Migration beim Paritätischen Berlin ("Furchtbar ist bei den sogenannten ,interkulturellen Trainings', die ja durchaus auch ihren Sinn haben, immer das Eisbergmodell. Das meiste läge dabei unter der Oberfläche. Und erst wenn ich diesen tiefvergrabenen kulturellen Hintergrund analysiert hätte, könnte ich mit einem Türken reden. Wichtig ist doch vor allem, das Individuum sehen zu können.") und Prof. Dr. Werner Sacher ("Datenschutz ist bei der Elternarbeit ein riesen Problem. Wir sind ja schon soweit, dass ich nicht einmal den Beruf der Eltern in den Schulunterlagen speichern darf. Oft ist es schon problematisch, selbst auf freiwilliger Basis solche Informationen einzuholen. Pädagogen und Eltern wissen aber wechselseitig zu wenig voneinander, vor allem über die familiären Hintergründe. Auch die deutsch-autochthone ,Unterschicht' entwickelt sich hier zu einem Problem. Hartz IV vererbt sich.").

Themenforum "Jugendliche als Experten"

In der zweiten Runde ging es um das Thema "Jugendliche als Experten". Per Traasdahl, Geschäftsführer bei Caiju e.V. ließ die Lebenssiuationen junger Menschen bei der Vorbereitung auf das Berufsleben "lebendig" werden, die ihm viele Rätsel aufgeben würden (ein unverständlicher Mangel an Arbeitsreife unter Praktikant_innen, die Verschiebung von Schulabschlüssen über die Allgemeinbildung hinaus in Lehrgänge mit ungewissen Perspektiven, Abbrüche von einem Drittel aller Ausbildungsverhältnisse, so zu tun als wäre das Jobcenter ein planbarer Garant für den Lebensunterhalt). Er sprach von "Motivationsdämpfern", die alle junge Menschen beim Übergang erfahren würden (Ernüchterung in den Schulen, in Betrieben und bei den Berufsvermittlern, "verschlissene" Kapazitäten), wobei junge Menschen mit ausländischen Wurzeln noch betroffener wären ("spätestens ab dem Zeitpunkt wo sie feststellen, wie unterrepräsentiert sie in der Belegschaft der gesellschaftlichen Institutionen sind"). Nach Traasdahl geht es aber nicht nur "um die richtige Willkommenskultur", sondern um das Thema "Anders sein, nicht dazu zu gehören". Dieser Herausforderung müsse man sich bei der Entwicklung inklusiver Verhältnissen grundsätzlich stellen. Und dieses Spannungsfeld würden auch alle Jugendlichen erleben (In der Jugend, auf der Schwelle zum etablierten Leben und Gesellschaft, ist jeder Jugendliche in gewissem Sinne ein Migrant).

Jürgen Bittrich, Koordinator Jugendberufshilfe und EU-Projekte bei der Helmut-Ziegner Berufsbildung gGmbH, betonte noch einmal die Relevanz des Themas ("60 % der Ausbildungsabbrecher nehmen keine neue Ausbildung auf."). Monika Weigand, Koordination Übergang Schule und Beruf beim Jugendamt Spandau, erzählte aus dem Alltag beim Jugendamt. Und Norbert Schütte, Schulleiter an der Ellen-Key-Schule betonte noch einmal die Wichtigkeit von stabilen Netzwerken ("Wir haben mittlerweile den dritten Träger bei den Berufsbegleitern. Wie soll denn da ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden? Die hohe Qualität der dualen Ausbildung wird gerade bei den Familien mit Migrationshintergrund nicht gesehen. Der klassische Fall ist immer: ,Mein Sohn soll Anwalt werden und meine Tochter Ärztin.‘ Wir müssen das Selbstbewusstsein der jungen Leute stärken.").

Alle Tagungsmaterialien sind auf der Internetseite des Paritätischen zu finden.

Der Artikel erschien zuerst auf dem Blog www.jugendhilfe-bewegt-berlin.de.

Redaktion: Andreas Schulz

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