Interview mit Medienwissenschaftlerin
Die Corona-Krise als Medienereignis
Wie sich die Corona-Pandemie in den nächsten Tagen und Wochen entwickelt, ist unsicherer denn je. Fest steht jedoch: Sie wird in die Geschichtsbücher eingehen und die Menschen weltweit werden sich lange daran erinnern. Dr. Nicole Wiedenmann von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg erklärt, wie die Medien zu unserem Umgang mit der Pandemie beitragen.
16.12.2020
Dr. Nicole Wiedenmann vom Lehrstuhl für Medienwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) blickt im Interview auf die Berichterstattung der vergangenen Monate und erklärt, was es mit dem sogenannten kollektiven Gedächtnis auf sich hat und welchen Einfluss die Medien auf unsere Erinnerung haben.
Frau Dr. Wiedenmann, was bedeutet „kollektives Gedächtnis“?
Das kollektive Gedächtnis ist das Gedächtnis einer Gruppe, wie beispielsweise einer Nation oder einer Ethnie, es entsteht zwischen den Menschen und ist ein soziales Phänomen. Wir versichern uns einer Gruppenzugehörigkeit durch kollektive Erfahrungen und Erlebnisse und durch ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis.
Inwiefern können die Medien Einfluss auf das kollektive Gedächtnis haben?
Die Medien sind hier vor allem auf zwei Ebenen entscheidend – erstens: Der Soziologe Niklas Luhmann schrieb, dass wir alles, was wir über die Welt und die Gesellschaft, in der wir leben, wissen, letztlich aus den Massenmedien wissen. Die Corona-Pandemie ist hierfür ein gutes Beispiel, da wir von Entwicklungen und Ereignissen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen meist erst aus den Massenmedien erfahren. Durch Kommunikation der Menschen untereinander, einer gemeinsamen – wenn auch zum Teil medienvermittelten – Erfahrung, entfaltet sich das kollektive Gedächtnis, also eine gemeinsame Erinnerung.
Ist es auch so, dass Medienberichte zur Dokumentation und Speicherung von Ereignissen dienen können?
Ja, das ist die zweite Ebene, denn Medien spielen auch als externes Gedächtnis eine entscheidende Rolle. Wir können Wissens- und Erfahrungsinhalte in den unterschiedlichen Medien über lange Zeiträume speichern. Durch diese Auslagerung von Gedächtnisinhalten in Medien, können diese Inhalte unabhängig von Menschen als Träger gespeichert werden.
Die Corona-Krise ist für uns eine neue Situation, die uns herausfordert. Inwiefern tragen die Medien dazu bei, wie wir damit umgehen?
Gerade bei einem Ereignis wie der Corona-Pandemie sind wir auf unfassbar viele Informationen aus dem Mediensystem angewiesen. Es ist Expertenwissen gefragt, das von den Medien aufbereitet wird, um es weniger komplex zu vermitteln.
Bei einem demokratisch ausgerichteten Mediensystem werden dann auch viele unterschiedliche Meinungen kommuniziert – dies kann zwar einerseits für Verunsicherungen sorgen, gehört andererseits aber als Aushandlungsprozess zu einer demokratischen Gesellschaft dazu.
Außerdem haben Medien eine weitere, sehr nützliche Funktion: Sie kompensieren und unterhalten. Der direkte Kontakt zu anderen Menschen wurde eine Zeitlang eingeschränkt und wir konnten in dieser Phase manche Kontakte ausschließlich medial pflegen, auch viele Bereiche der Wirtschaft, der Kulturarbeit und der Bildung wurden in den medialen Raum verlagert. Darüber hinaus stellen Medien selbstverständlich auch ein breites Unterhaltungsprogramm zur Verfügung, was gerade in Zeiten ausgeprägter sozialer Distanz einen unschätzbaren Wert hat.
Wie stellen die Medien das Corona-Virus dar?
Da das Virus mit dem bloßen Auge nicht sichtbar ist und selbst für die hochmoderne Bilderzeugungstechnik eine gewisse Herausforderung darstellt, wurden in Zeitungen, Zeitschriften und in Nachrichtensendungen meist riesige, quietschbunte graphische 3-D-Modelle zur Visualisierung eingesetzt. Einerseits ist das Virus also unsichtbar, andererseits geht von Corona ein großes Bedrohungspotenzial aus und diese Gefahr soll durch die überdimensionierten Darstellungen visualisiert und verdeutlicht werden.
Eine weitere Strategie in der Darstellung der Pandemie ist die Übersetzung von Infizierten, Genesenen und Toten in Zahlen, Statistiken und Karten. Diese Visualisierungsmethoden sollen uns komplexe Sachverhalte verdeutlichen und anschaulich machen. Allerdings sind diese Informationsvisualisierungen meist gar nicht so selbsterklärend.
Was – außer Statistiken – ist noch typisch für die aktuelle Situation?
Als allgegenwärtig zeigt sich das Maskenthema: Da der Mund-Nasen-Schutz in unserer Kultur vor Corona nur für spezifische Berufsgruppen und Arbeiten zum Einsatz kam, ist es neu, dass er für uns alle nun ein wichtiges Utensil geworden ist. In den Medien führt dies zu einer gewissen Musterbildung: Abbildungen von Schoko-Osterhasen mit Mundschutz, Haustiere mit Maske, Schaufensterpuppen mit Mund-Nasen-Schutz – die Maske wird hier zum umfassenden Symbolbild für die Pandemie.
Ist zum jetzigen Zeitpunkt schon absehbar, wie wir uns später an den Ausbruch der Pandemie erinnern werden?
Die mediale Omnipräsenz der Aspekte wird mutmaßlich dazu führen, dass wir das Virus als riesige bunte Kugel mit Spikes an der Oberfläche in Erinnerung behalten werden und dass der Mund-Nasen-Schutz als Symbol für diese, aber wahrscheinlich auch für weitere Pandemien stehen wird.
Der historische Einschnitt durch Corona wird aber auch an der grundsätzlichen medialen Berichterstattung deutlich. Da so viele gesellschaftlichen Systeme von der Pandemie betroffen sind, gibt es kaum einen Bereich unseres Lebens, der nicht dadurch beeinflusst wird. Die Gefahr einer medialen Übersättigung steigt – aber auffällig ist dabei, dass die Berichterstattung das wiederum permanent reflektiert. Neben allen fürchterlichen Auswirkungen und Verlusten durch Corona wird das Virus sicherlich auch als generelles und allgegenwärtiges Medienereignis erinnert werden.
Quelle: Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vom 10.11.2020
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